Vom Loslassen, Abschiedsschmerz und einem berauschenden Neuanfang – Helena und der Herbst
“Wer loslässt, hat beide Hände frei” - chinesisches Sprichwort
Gestern, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, habe ich Kastanien gesammelt. Ich konnte dem Impuls, diese hübschen, braun-glänzenden Früchte aufzulesen, nicht widerstehen. Mit den Jackentaschen voll davon laufe ich aus dem Park, als mich ein Kind antippt und mir ein rot-braun-grünes Ahorn-Blatt freudig entgegenstreckt. Zuhause angekommen breite ich meine Ausbeute auf dem Esstisch aus, meine Mitbewohnerin stellt sich neben mich, stützt die Hände in die Seiten und seufzt: “Es ist offiziell Herbst”.
Der Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Die Natur schüttelt sich, wirft ab, was sie für den Winter nicht braucht, um dann mit einem neuen Zyklus von vorn zu beginnen. Sie lässt los.
Loslassen fällt dem Menschen schwer. Mir zumindest. Etwas aus der Hand oder vielmehr aus dem Herzen zu geben, ist nicht einfach, weil man nie weiß, ob und in welcher Form es zurückkehren wird. Seien es materielle Dinge oder zwischenmenschliche Beziehungen und Gefühle, Gewohnheiten oder Umstände, Träume oder Hoffnungen.
Wir werden immer wieder dazu bewegt oder auch vom Leben dazu gezwungen, loszulassen und uns von Altem zu verabschieden. Im Herbst jedoch packt mich jedes Jahr aufs Neue die Lust, auch mich zu schütteln und jeglichen Ballast, den ich das Jahr über mit mir herumgeschleppt habe, loszuwerden. Und mich wohlzufühlen. Mich bereit zu machen, für den Winter. Ob das an der frischen Luft liegt, die durch die Stadt weht, die noch nicht beißend kalt und demnach sehr angenehm zum Durchatmen ist, weiß ich nicht. Vielleicht auch an der bunten Blätterdecke, die beim Gehen so schön raschelt und irgendwie zum Nachdenken anregt. Vielleicht ist es das Kerzenlicht, das jetzt immer öfter aus den Fenstern scheint und die Gemütlichkeit, die keinen Platz für Sorgen und Lasten hat. Es liegt was in der Luft. Rest-Sonne. Sie scheint sich zu verabschieden, auch sie und ihre Wärme müssen wir wohl oder übel loslassen für ein paar Monate.
Loslassen fällt dem Menschen schwer. Ganz egal, wie sehr einem eingeredet wird oder man sich selbst gut zuspricht, dass es zum Leben gehört und nötig ist, um neuen Raum zu schaffen- weh tut es allemal. Objektiv betrachtet weiß man, dass es weiter geht, dass es einen in der Entwicklung vorantreibt, wenn man in der Lage ist, sich auf neue Dinge und Erfahrungen einzulassen, aber das tückisch-schöne Vertraute zieht uns immer wieder in seine Umarmung und säuselt uns ins Ohr, dass das Loslassen und Aufbrechen doch viel zu gefährlich sei.
Loslassen fällt dem Menschen schwer. Aber Neuanfänge sind unumgänglich. Sie können erleichternd und erschreckend, aufwühlend und berauschend und grau-glänzend sein. Ein Griff ins Leere oder der Hauptgewinn. Wenn wir meinen, im Chaos und im Trott zu versinken kann es helfen, sich vor Augen zu halten, dass es aus den Situationen, aus welchen wir momentan meinen, sowieso nie entkommen zu können, einen Ausweg geben kann. Vielleicht, oder, ziemlich sicher, vermisst man zunächst schmerzlich, was uns nach dem metaphorischen Loslassen aus den Händen fiel. Vor einigen Monaten, als ich zusehen musste, wie ein großes Gefühl und eine große Liebe aus meinem Leben ging, wusste ich lang nicht, wohin mit dem Schmerz. Doch er hat sich, nachdem er es sich eine Weile in mir gemütlich gemacht hatte, verabschiedet. Er ist schönen Gefühlen gewichen. Einfach so, ohne Vorwarnung und ohne, dass ich Hoffnung hatte, dass das in nächster Zeit passiert.
Die Philosophin Ina Schmidt meinte einmal: “Wir müssen nicht nur Abschied nehmen, wir können es auch”. Damit spricht sie genau diese uns ständig begleitende Möglichkeit, unser Leben oder auch nur eine Kleinigkeit, die uns missfällt, umzukrempeln. Wir können uns von einer Wohnung, einer Stadt, einem oder mehreren Menschen verabschieden. Oder aber, wir fangen damit an, Abschied zu nehmen von alten Glaubenssätzen, von Perspektiven, die wir lange Zeit für die richtigen gehalten haben oder auch nur von der Frisur, die uns eigentlich schon seit Jahren irgendwie missfällt.
Abschied und ein neuer Anfang bedeuten ein Ende von etwas. Wie wir das Ende gestalten, liegt jedoch auch in unserer Hand. Sagt man “Auf Wiedersehen”, zu jemandem oder einem Gefühl, so hat man doch nie die Gewissheit, dass das Leben einem nicht das wiederbringen wird, von dem man sich vielleicht fälschlicherweise verabschiedet hat. Vielleicht braucht man einfach nur ein bisschen Vertrauen, dass irgendwie alles gut wird. Auch wenn es ausgelutscht und albern klingen mag. Und vielleicht muss man genau aus diesem Grund zumindest versuchen, keine Angst davor zu haben, etwas Neues zu wagen.
Fang an, dich zu schütteln, so schön die bunten aber alten Blätter die du trägst, auch sein mögen. Irgendwann werden sie absterben und bevor das passiert, ist es wichtig, sie los- und gehen zu lassen, solange sie noch schön sind. Ich bin mir sicher, das ist gesund.
Man kann in Veränderung nur dann Sinn finden, wenn man in diese eintaucht, mit ihr mitgeht und sich dem Tanz anschließt.- Allan Watts
Eure Helena